Die Interessenabwägung, welche bei der Verwertungsfrage nach Art. 141 Abs. 2 StPO zur Anwendung kommt, ist Ausfluss des Fairnessgebots aus Art. 29 Abs. 1 BV resp. Art. 6 Ziff. 1 EMRK (sog. Fair Trial) (Oberholzer, 255; BSK StPO/ Waldmann, Art. 29 BV, Rz. 37 ff.). Wie bereits der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Vukota-Bojic bestätigte, statuiert die EMRK keine Vorschriften darüber, wie ein innerstaatliches Gerichtsverfahren die Erhebung, die Würdigung und die Zulässigkeit der Beweismittel vornehmen soll. Damit statuiert die EMRK, wie auch die EGMR-Rechtsprechung die alleinige Regelungskompetenz der einzelnen Vertragsstaaten im Verwertungsbereich (Urteil des EGMR vom 18. Oktober 2016, Vukota-Bojic gegen die Schweiz, 61838/10, § 92-93; Urteil des EGMR vom 01. Juni 2010, Gäfgen gegen Deutschland, 22987/05; Teichmann/Weiss, 139). Dadurch ergibt sich für die vereinzelten Vertragsstaaten ein breiter Ermessensspielraum hinsichtlich ihrer Interessensabwägung (Teichmann/Weiss, 159). Das EGMR prüft anhand von Art. 6 Ziff. 1 EMKR einzig, ob sich in der Gesamtbetrachtung des Einzelfalls, unter der Mitberücksichtigung der Qualität und Relevanz der Beweise und unter der Wahrung der Verteidigungsrechte ein insgesamt faires Verfahren ergibt. (Urteil des EGMR vom 18. Oktober 2016, Vukota-Bojic gegen die Schweiz, 61838/10, § 91 ff.).
Das Bundesgericht hat im BGE 143 IV 387 bei der Verwertungsproblematik der rechtswidrig erhobenen Beweise durch einen Privatdetektiv, welcher im Auftrag einer Privatversicherung agierte, eine Interessenabwägung vorgenommen und somit seinen EMRK-Ermessensspielraum ausgenutzt (Teichmann/Weiss, 159-160). Diese vorgenommene Interessenabwägung wird nicht nur von Gächter/Meier, sondern auch von der allg. Strafrechtslehre scharf kritisiert (Oberholzer, 255, Gächter/Meier, 33 ff.). Bei einer Interessenabwägung kommt es stets zu einer Gewichtung zwischen dem staatlichen Strafanspruch und dem Interesse des Beschuldigten an einer Unverwertbarkeit der rechtswidrig erhobenen Beweise (Oberholzer, 255). Die Strafrechtslehre bemängelt bei der Interessenabwägung, dass sie den falschen Prämissen folgt. Der Hintergrund ist, dass bei einer Interessenabwägung schlussendlich stets die Schwere des Tatvorwurfs entscheidend ist. Je schwerer ein Strafdelikt wiegt, desto weniger werden Anforderungen an eine gesetzeskonforme Beweiserhebung gestellt (Oberholzer, 255).
Derselben Argumentation folgen Gächter/Meier bei der Kritik der vorgenommenen Interessenabwägung im BGE 143 IV 387 durch das Bundesgericht, wobei stets das Interesse an der Verhinderung eines unrechtmässigen Leistungsbezugs das privaten Interesse am Grundrechtsschutz und somit auch das Legalitätsprinzip (Art. 36 Abs. 1 BV) überwiegt (Gächter/Meier, 30 ff.). Das Bundesgericht bestätigte im BGE 143 IV 387, dass die private Observationen lediglich an allgemein zugänglichen und für die Öffentlichkeit einsehbaren Orten erfolgte (in Bezug zu Art. 179quater StGB) und somit einen geringen Grundrechtseingriff darstellte (BGE 143 IV 387 E. 4.6). Kritik an der Entscheidung des Bundesgerichts üben Gächer/Meier, welche argumentieren, dass weder die Dauer noch die Nähe der Observation zum Haus in die Beurteilung miteinbezogen wurde. Zudem fördert gerade die vorgenommene Interessenabwägung in BGE 148 IV 387 die Selbstjustiz (Gächter/Meier, 29), was wiederum in Wiederspruch zur Interessenabwägung selbst steht, die gemäss der Lehre gerade keinen Raum für Selbstjustiz lassen sollte (BSK StPO/ Gless, Art. 141 StPO, Rz. 42). Schlussendlich ist es die Aufgabe des zuständigen Sachgerichts, über die Beweiswürdigung und somit auch über die Interessensabwägung zu befinden (BGE 143 IV 387, E. 4.4).