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Bemerkungen zu BGer 6B_606/2018: Schriftliches Berufungsverfahren

Der Artikel wurde von Dr. iur. Dr. rer. pol. Fabian Teichmann in Zusammenarbeit mit Marco Weiss verfasst und 2019 in der Fachzeitschrift «AJP / PJA» veröffentlicht. Das Bundesgericht hat sich in einem Entscheid mit der Frage auseinandergesetzt, ob ein schriftliches Berufungsverfahren im Kanton Aargau nach Art. 406 Abs. 2 StPO durchgeführt werden müsse. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass im vorliegenden Fall die Anwesenheit der beschuldigten Person erforderlich und die Sache nicht von geringer Bedeutung sei. Zudem hatte der Beschwerdeführer vor Bundesgericht in seiner Berufungsschrift ausdrücklich auf eine mündliche Verhandlung bestanden. Das schriftliche Berufungsverfahren sei daher zu Unrecht angeordnet worden, weil eine mündliche Verhandlung hätte angesetzt werden müssen. Das Bundesgericht kritisierte auch die Praxis des Obergerichts des Kantons Aargau, welches vermehrt das schriftliche Verfahren anordne, obwohl es nur in Ausnahmefällen vorgesehen sei. Das Berufungsgericht müsse im Einzelfall prüfen, ob die Voraussetzungen zur Durchführung des schriftlichen Verfahrens gegeben seien oder nicht. Auch die herrschende Lehre geht davon aus, dass das schriftliche Verfahren eine Ausnahme sein sollte, während eine Minderheit meint, dass es keine Verpflichtung gibt, möglichst viele Berufungen mündlich zu verhandeln. Das Obergericht des Kantons Aargau vertritt die Ansicht, dass die Mindermeinung gelten sollte. Das höchste Gericht der Schweiz teilt jedoch diese Ansicht nicht und betont, dass das Einverständnis der Parteien nicht ausreicht, um das schriftliche Verfahren anzuordnen. Die Anwesenheit der beschuldigten Person kann nur in bestimmten Fällen entfallen. Wenn die beschuldigte Person den ihr vorgeworfenen Anklagesachverhalt bestreitet, muss sie unabhängig von Beweisanträgen des Berufungsgerichts ausführlich befragt werden. Wenn das schriftliche Verfahren zur Regel wird, widerspricht dies der gesetzlichen Konzeption. Die Kritik des Bundesgerichts fällt besonders schwerwiegend aus, da das Obergericht des Kantons Aargau seit Jahren bundesrechtliche Vorgaben missachtet hat. Eine einheitliche Anwendung der schweizerischen Strafprozessordnung ist unbedingt erforderlich, weswegen kein Raum für kantonale Besonderheiten bleibt. Das bisherige Vorgehen des Obergerichts hat nur dazu geführt, dass das Bundesgericht den jeweils angefochtenen Entscheid wegen formeller Mängel aufgehoben und an die Vorinstanz zurückverwiesen hat, was zu unnötigen Verzögerungen und einer Verletzung des Beschleunigungsgebots führt.

Zum Autor: Fabian Teichmann ist Rechtsanwalt und leitet eine eigene Kanzlei in St. Gallen, Zürich und Frauenfeld. Des Weiteren ist er im Register der Notare des Kantons St. Gallen eingetragen.

Mehr zu diesem Thema finden Sie in Teichmann, F. (2019). Bemerkungen zu BGer 6B_606/2018: Schriftliches Berufungsverfahren. Aktuelle Juristische Praxis / Pratique Juridique Actuelle (AJP/PJA), 10, 1080-1084, 2019.