Die Frage, wie kriminelle Vermögenswerte wirksam abgeschöpft werden können, beschäftigt Politik und Wissenschaft seit Jahren. Das Leitmotiv „crime must not pay“ ist eindeutig: Straftaten dürfen sich nicht lohnen, Täter sollen nicht von illegal erworbenem Reichtum profitieren. Im deutschen Recht bestehen jedoch weiterhin erhebliche Lücken. Nach geltender Rechtslage sind Einziehungen nach §§ 73 ff. StGB im Regelfall an eine strafrechtliche Verurteilung gebunden. Zwar hat der Gesetzgeber mit § 76a StGB im Jahr 2017 ein Verfahren geschaffen, das auch ohne Verurteilung möglich ist, doch setzt dieses weiterhin einen konkreten Tatnachweis voraus. Damit bleiben Vermögenswerte unangetastet, wenn der Täter flieht, verstirbt oder sein Vermögen hinter Offshore-Strukturen verborgen bleibt. Gerade organisierte Kriminalität nutzt verschachtelte Firmengeflechte oder Strohmänner, um illegale Gewinne dauerhaft zu sichern. Diese systemische Vollzugslücke untergräbt die Glaubwürdigkeit des Strafrechts.
Die EU-Richtlinie 2024/1260 will diese Lücke schließen. Sie verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Einführung echter Non-Conviction-Based Confiscation. Erstmals soll eine Einziehung auch dann möglich sein, wenn keine strafrechtliche Verurteilung vorliegt und kein konkreter Tatnachweis erbracht werden kann. Maßgeblich ist allein, dass die illegale Herkunft eines Vermögenswertes mit überwiegender Wahrscheinlichkeit feststeht. Damit verschiebt sich das Verfahren in Richtung eines zivilrechtlich geprägten in-rem-Modells, das sich gegen das Vermögen als solches richtet und nicht mehr primär gegen die Person des Täters.
Ein zweites zentrales Instrument der Richtlinie sind Unexplained Wealth Orders. Sie ermöglichen es Behörden, Eigentümer aufzufordern, die Herkunft ihrer Vermögenswerte zu erklären, wenn diese in einem offensichtlichen Missverhältnis zu den erklärten Einkünften stehen. Gelingt eine plausible und überprüfbare Erklärung nicht, droht die Einziehung. Ziel ist es, gerade hochrangige Kriminelle, korrupte Amtsträger und mafiöse Strukturen zu treffen, deren Lebensstil offensichtlich nicht durch legale Einkünfte gedeckt ist.
Ein Blick auf internationale Erfahrungen zeigt, dass NCBC-Mechanismen bereits erfolgreich etabliert sind. In der Schweiz erlaubt seit 2015 das SRVG eine präventive Einziehung von Vermögen politisch exponierter Personen, wenn die legale Herkunft nicht nachgewiesen werden kann. Italien kennt seit den 1980er Jahren die „confisca di prevenzione“, mit der Mafia-Vermögen unabhängig von einem konkreten Straftatnachweis eingezogen wird. Im Vereinigten Königreich existiert seit 2002 ein zivilrechtliches Verfahren der „civil recovery“, ergänzt seit 2018 durch Unexplained Wealth Orders. Alle drei Systeme haben gezeigt, dass NCBC funktionieren kann, wenn es mit gerichtlicher Kontrolle und ausreichenden Verfahrensgarantien kombiniert wird.
Auf dieser Grundlage wird ein Vermögenseinziehungsgesetz für Deutschland entwickelt, das als zivilrechtliches in-rem-Verfahren konzipiert sein soll. Geführt werden soll es vor spezialisierten Kammern, wobei der Maßstab die überwiegende Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Vermögen illegalen Ursprungs ist – im Sinne einer Beweislast von etwa 75 Prozent. Erst wenn die Staatsanwaltschaft diesen Standard erfüllt, soll eine sekundäre Darlegungslast des Eigentümers greifen. Dieser wäre verpflichtet, eine plausible Erklärung für die Herkunft zu liefern, ohne dass dadurch eine unzulässige Beweislastumkehr entstünde.
Das Verfahren soll durch zahlreiche Sicherungen flankiert werden. Vorgesehen sind mehrstufige richterliche Kontrollen mit umfassenden Rechtsmitteln, um willkürliche Entscheidungen zu verhindern. Eine neu zu schaffende Bundes-Asset-Recovery-Behörde soll beschlagnahmte Vermögenswerte professionell verwalten, deren Wert erhalten und Opfer vorrangig entschädigen. Härtefallregelungen sollen gewährleisten, dass unbeteiligte Dritte nicht betroffen werden. Darüber hinaus werden Transparenzberichte und eine datenschutzkonforme Verarbeitung gefordert, um das Vertrauen der Öffentlichkeit zu sichern.
Die Einführung von NCBC wirft schwerwiegende verfassungs- und menschenrechtliche Fragen auf. Der Eingriff in das Eigentum muss mit Art. 14 GG vereinbar sein, und Art. 6 EMRK stellt hohe Anforderungen an ein faires Verfahren. NCBC kann nur Bestand haben, wenn Verhältnismäßigkeit, richterliche Kontrolle und Verfahrensrechte gewahrt sind. Die Hauptbeweislast muss bei den Behörden verbleiben, eine echte Beweislastumkehr wäre unzulässig. Nur unter diesen Voraussetzungen besteht Aussicht, dass das System vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Bestand haben wird.
Gleichzeitig entstehen praktische Probleme. Ein neues Vermögenseinziehungsgesetz würde erheblichen Verwaltungsaufwand verursachen und beträchtliche Kosten für die Verwaltung beschlagnahmter Werte mit sich bringen. Rechtsstreitigkeiten bis hin zu Grundrechtsklagen könnten die Umsetzung verzögern. Auch wirtschaftliche Nebenwirkungen sind denkbar: Würden etwa große Immobilienbestände eingezogen und auf den Markt gebracht, könnten lokale Märkte destabilisiert werden.
Trotz dieser Risiken überwiegen die Chancen. Ohne NCBC bliebe Deutschland ein attraktiver Standort für illegales Kapital, während andere Staaten längst effektiver vorgehen. Ein funktionierendes Vermögenseinziehungsgesetz könnte die Effektivität der Kriminalitätsbekämpfung erheblich steigern, Opfer besser entschädigen und zugleich die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards gewährleisten. Damit würde das Leitmotiv „crime must not pay“ nicht länger bloße Rhetorik bleiben, sondern zur gelebten juristischen Praxis.