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Verfassungsgerichtsbarkeit in der Schweiz

Die Überprüfung des staatlichen Handelns auf Übereinstimmung mit der Verfassung wird im juristischen Jargon als Verfassungsgerichtsbarkeit bezeichnet. Der Begriff bezeichnet den Vorgang der Prüfung eines realen Einzelfalls oder eines abstrakten Gesetzes auf seine Verfassungsmässigkeit durch ein unabhängiges Gericht.

Die Schweiz kennt im Vergleich zu ihren Nachbarländern nur eine beschränkte Verfassungsgerichtsbarkeit. Konkret können nur kantonale Erlasse und kantonale sowie eidgenössische Verordnungen auf die Übereinstimmung mit den Verfassungsnormen hin überprüft werden. Bundesgesetze oder Kantonsverfassungen selbst sind durch Art. 190 der BV explizit von der Überprüfung ausgeschlossen bzw. gilt ein Anwendungsgebot. Das Bundesgericht kann zwar die Verfassungswidrigkeit eines Bundesgesetzes feststellen, es liegt aber nicht ihn seiner Kompetenz, die Norm ausser Kraft zu setzen. Die Norm muss trotz ihrer Verfassungswidrigkeit angewendet werden.

Doch warum können nicht alle Normen überprüft werden?

Der Gesetzgeber wollte mit dieser partiellen Verfassungsgerichtsbarkeit der schweizerischen Demokratie Rechnung tragen. Die drei Gewaltenebenen, Bundesrat, Bundesversammlung und Bundesgericht, sind laut der Schweizer Verfassung alle von gleichem Rang. Die Bundesversammlung ist für die Gesetzgebung zuständig, wobei die Regierung das Gesetz umsetzt und das Bundesgericht Recht spricht. Dabei entsteht bei einer Überprüfung von staatlichem Handeln durch das Gericht die Problematik des gleichen Rangs. Mit einer Rechtsprechung würde sich das Gericht über die Bundesversammlung stellen und ihre gesetzgeberische Tätigkeit überprüfen. Dies soll jedoch aufgrund der Gewaltenteilung verhindert werden. Alle drei Ebenen sind in ihrem Zuständigkeitsbereich die oberste Behörde.

Zudem gibt es verschiedenste Meinungen, die die politische Legitimation bei der Verfassungsgerichtsbarkeit kritisieren. Zuständig für die Gesetzgebung ist die Bevölkerung mittels des fakultativen Referendums und die durch die Bevölkerung gewählte Bundesversammlung. Es sind Vertreter und Vertreterinnen des Volkes, die die Gesetze beschliessen, oftmals wird hierzu der qualifizierte Rat einer Anwältin oder eines Anwalts benötigt. Insofern sollte es nicht an einem/einer BundesrichterIn sein, die Gesetze womöglich ausser Kraft zu setzen. Die Gegner könnten hier wiederum argumentieren, dass es genau die unabhängigen RichterInnen sein sollen, die die Gesetze der Bundesversammlung überprüfen, da es sonst keine Überprüfung geben kann. Weiterhin sollte beachtet werden, dass KritikerInnen eine Polarisierung des Rechts befürchten. So wird durch einen bundesgerichtlichen Entscheid über die Verfassungsmässigkeit von Bundesgesetzen auch immer politisch Stellung genommen, da sich Recht und Politik nicht einfach trennen lassen. Doch ist es an Richterinnen und Richtern, politisch Stellung zu beziehen, welche in die Gesetzgebung einfliesst?

Schlussendlich gilt es zu bedenken, dass die Bundesversammlung kein Garant für die Verfassungskonformität von Bundesgesetzen ist. Es ist schlichtweg unmöglich, als Milizparlament mit den unterschiedlichsten Vorbildungen der Politikerinnen und Politikern alle Verfassungsproblematiken eines Gesetzes vorauszusehen. Insofern könnte eine Verfassungsgerichtsbarkeit ebenfalls als Schutz der Demokratie gesehen werden.

Hier zeigen sich die verschiedenen Vorstellungen von den Prinzipien der Demokratie und des Rechtstaates. Das Demokratieprinzip stellt das Volk als höchste Gewalt im Bund dar und fördert die Beteiligung des Volkes an der politischen Entscheidungsfindung. Die Rechtstaatlichkeit hingegen möchte das Volk vor dem staatlichen Machtmissbrauch schützen. Zwischen diesen Prinzipien kommt es immer wieder zu Spannungen und doch hat sich durch den Art. 190 der BV das Demokratieprinzip durchgesetzt. So räumt die Bundesverfassung den womöglich verfassungswidrigen aber durch das Volk legitimierten Bundesgesetzen Vorrang ein.

Bei einem konkreten Anwendungsfall einer festgehaltenen Verfassungswidrigkeit eines Bundeserlass kann durch einen Anwalt in Zürich oder St. Gallen die Verfassungswidrigkeit festgestellt werden. Nicht die verfassungswidrige Norm wird allgemeinverbindlich aufgehoben, sondern nur der Erlass (Verfügung, Entscheid) im ganz konkreten Einzelfall.